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Mit Astrid Lindgren im Wohnzimmer.

Aus einer Photoshopspielerei wurde ein etwa zwei mal ein Meter großes Bild, das ich „Guess who´s coming to dinner“ nannte und das nun seit Jahren bei uns zu Hause hängt. Es zeigt einen kleinen Ausschnitt unseres Wohnzimmers, wo ein paar Menschen auf unserer Couch sitzen und freudig in die Kamera lächeln. Eine Reise durch Raum und Zeit machte es möglich, Georg Danzer, Astrid Lindgren, Marie Curie, Anne Frank und Michail Gorbatschow auf unsere Couch zu bitten. An dieser Stelle sei erwähnt, dass nur die Kunst alleine diese Fähigkeit besitzt – abgesehen vielleicht von Harry Potters mächtigem Zauberstab, dem Elderstab. Aber den hatte ich gerade nicht zur Hand.

Wer sich nun nach eingehender Ausführung und Erklärung sehnt, was mich zu diesem äußerst außergwöhnlichen Personenmix animierte, dem sei versprochen, dass ich dies in einem späteren Beitrag zu einem späteren Zeitpunkt gerne noch ausgiebig vertiefen werde. Heute möchte ich den Blick aber auf eine Frau lenken, die sich als verdiente Kinderbuchautorin ihren Eintrag in die Geschichtsbücher der Menschheit sowie einen Platz in jenem elitären Zirkel auf unserer Wohnzimmercouch mehr als verdient hat. Der Schöpferin von Pippi Langstrumpf, Kalle Blomkvist und Ronja, der Räubertochter – Astrid Lindgren. Beim bloßen Lesen dieser Worte ist wahrscheinlich nicht zu merken, mit welcher Ehrfurcht ich ihren Namen in diesen Beitrag tippe.

Astrid Anna Emilia Lindgren, die 1907 auf einem Bauernhof in der Nähe von Vimmerby in Südschweden das Licht der Welt erblickte, schrieb aber nicht nur Kinderbücher für die Ewigkeit, sondern widmete sich beispielsweise in ihrem Werk Krigsdagböcker ihren Tagebucheinträgen, die während des Zweiten Weltkrieges entstanden. Auch der Titel der deutschen Übersetzung ist für mich eine Punktlandung: Die Menschheit hat den Verstand verloren. Sechs Worte, welche die Brutalität dieser Zeit, das Ausmaß des menschlichen Leides und die gleichzeitige Ohnmacht der Zeitzeugen wohl kaum besser beschreiben könnten. Akribisch widmet sich Lindgren ihren Einträgen von 1939 bis 1945 und beschäftigt sich mit dem systematischen Niedergang Europas und ihrer Heimat unter der Geißel von Faschismus und Rassismus. Ich empfehle, es zu lesen.

Dieses Werk war sicherlich mitentscheidend, dass es Astrid Lindgren auf meine Couch geschafft hat. Ja, sie war mit ihren Kinderbüchern ein fixer Bestandteil unserer allabendlichen Kinderzimmer-Vorlesesessions. Und ja, unsere Kids durften auch die verfilmten Versionen ihrer Helden- und Heldinnen-Geschichten am TV-Bildschirm verfolgen. Was mich aber stets begeistert hat, ist, dass diese Frau nicht irgendwann aus Publicity-Gründen oder selbstgefälliger Eigeninszenierung heraus, auch einmal ihren Senf über diese schreckliche Zeit abgeben musste, um eine von vielen ihrer Zunft zu werden. Für dieses Buch kramt sie in echten Tagenbüchern, die in Echtzeit und mitten im Geschehen entstanden sind und ihre Gefühle, Ängste und ihre Bestürzung wiedergeben. Nichts wurde nachträglich aufgefettet oder zusätzlich emotional aufgeladen. Das, was da mitgeschrieben wurde, reicht vollkommen aus, um uns jedes Mal, wenn wir das Buch zur Hand nehmen, nochmals genau dorthin zurückzuführen – zur völligen Verstandlosigkeit der Menschheit. Das Traurige daran ist, dass es scheint, die Menschheit hätte ihren Verstand seither nicht wieder gefunden. Detaillierte Infos, wo es aktuell gerade überall an Verstand mangelt, holt euch doch bitte einfach aus den Tagesmedien eures Vertrauens. Ganz egal, ob ihr lest, hört oder schaut – ihr werden sicherlich gleich fündig werden. Versprochen!

Was ihr dazu aber bitte braucht, ist a) viel Zeit ob der Fülle an Gruselbotschaften aus Ost, West und allen sonstigen Himmelsrichtungen, b) etwas im Magen, sodass es euch selbigen nicht sofort nach den ersten Zeilen umdreht und c) vor allem Zeit zum Nachdenken, was jeder und jede Einzelne von uns gerade jetzt an Verstandesjustierung einbringen könnte. Ich bin sicher, ohne hier einen moralischen Tu-tu-tu Zeigefinger schwingen zu müssen, dass uns allen da doch gleich das eine oder andere einfällt. Mhh?

Neben vielen Preisen und Auszeichnungen erhielt Astrid Lindgren für „ihre einmalige schriftstellerische Tätigkeit, die sie den Rechten der Kinder und dem Respekt für ihre Individualität widmete“ am 9. Dezember 1994 im Parlament in Stockholm übrigens den Ehrenpreis des Right Livelihood Award, auch als alternativer Nobelpreis bekannt. Sie widmete ihr Leben der grenzenlosen Beflügelung, Inspiration und Förderung des kindlich-jugendlichen Geistes. Dazu waren weder Macht, Geld noch Politik vonnöten – ihre Feder, ihre Liebe und ihre Lust am Erfinden und Erzählen phantasievoller, gewalt- und angstfreier Geschichten reichten hierzu völlig aus:
„Liebe kann man lernen. Und niemand lernt besser als Kinder. Wenn Kinder ohne Liebe aufwachsen, darf man sich nicht wundern, wenn sie selber lieblos werden.“

Und vielleicht lässt uns die Liebe ja auch wieder unseren Verstand finden. Wer weiß?